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Antje Allroggen | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.

Alltagsdeutsch (47/04) 23.11.2004 "Blau"

Blau

Mehrere Sprecher: - "blau".- "blau"- "blau"- "blau"- "blau"- "blau".

O-Ton Andreas Reichel: "Blau ist, wie fast keine andere, die artenreichste Farbe. Wir haben auch in der Sprache am meisten die Möglichkeit, Blautöne zu differenzieren. Das geht an von den Farbbezeichnungen kobalt und ultramarin oder himmelblau. Dann die ganzen Schattierungen nach grau hin, taubenblaugrau oder zyanblau oder Edelsteine, die verschiedenen Lapislazuli, die verschiedenen Blautöne, die man hat, bis hin zu hellblau-dunkelblau, türkis und eben die nach grünlich hin changierenden Töne, preußisch blau, die ganzen Jeansfarben königsblau und admiralsblau. Da gibt es sehr viele Bezeichnungen, die Blautöne unterscheiden, was bei anderen eben nicht so ist."

Sprecherin: Andreas Reichel leitet die Malabteilung an der Alanus Kunsthochschule in Alfter bei Bonn. Ihn fasziniert an der Farbe blau, dass sie so vielfältig ist. Sie umspannt einen Farbbogen von fast weiß bis hin zu nahezu schwarz. Dabei helfen die Bestimmungswörter, die graduellen Unterschiede zu markieren. Bei der Farbe blau gibt es nicht nur viele verschiedene Farbtöne, auch die Wirkung auf den Betrachter kann je nach Schattierung sehr unterschiedlich sein.

O-Ton Andreas Reichel:

"Natürlich ist das himmelsblau dasjenige, womit man am meisten assoziiert. Gleichzeitig ist das Rätsel ja eben, dass die blaue Farbe am Himmel, so denn schönes Wetter ist, gar nicht existiert. Es hat ja niemand den Himmel blau gemalt und macht das jede Nacht wieder neu, und morgens ist wieder frisch ausgepackt blau alles da oben, sondern das ist ein Phänomen, worauf Goethe großen Wert gelegt hat, dass die blaue Farbe sich dort ereignet. Sie ist ein Ereignis."

Sprecherin: So erscheint uns der Himmel tagsüber als hellblau, weil er von der Sonne beschienen wird, und nachts als blauschwarz, weil wir dann von der Erde aus in eine dunkle Sphäre gucken. So heißt es bei Goethe:

1. Sprecher: "Um sich zu überzeugen, wähle man zur Beobachtung einen bedeckten Tag, wenn sich keine Spur von Blau am Himmel zeigt, man ziehe weiße Vorhänge vor die Fenster, man trete in das Zimmer, in welchem kein blauer Gegenstand sich befindet, und man wird den schönsten hellblauen Schatten sehen und sich überzeugen: dass eine reine Beraubung des Lichts an und vor sich blau sei."

Sprecherin: Weil die Farbe blau häufig wie ein Naturphänomen daherkommt, nur blau erscheint, in Wirklichkeit aber, wie der Himmel, in ihrer Farbigkeit gar nicht existiert, verbindet man mit blau häufig eine meditative Wirkung. Sabine Schütt-Jandik arbeitet als Heilpraktikerin mit der sogenannten Farb- und Lichttherapie. Ihre Patienten lässt sie dabei vor einer starken Lichtquelle Platz nehmen. Je nach Krankheitsbild setzt sie ihnen eine rote oder blaue Farbbrille auf, wobei die Farbe rot eine belebende und die Farbe blau eine beruhigende Wirkung haben soll.

O-Ton Sabine Schütt-Jandik: "Blau steht für nach innen kehren, sich über sich selbst Gedanken machen. Man sagt ja auch, da ist einer mit dem blauen Auge davongekommen zum Beispiel. Hat noch einmal Glück gehabt. Ist schon interessant, was die Farbe blau herstellt. Ich weiß, dass Goethe zum Beispiel ein Freund der blauen Farbe war. Der hat sich, wie hat er das gesagt, mitreißen, mitziehen lassen. Blau überwältigt einen nicht, man wird mitgezogen. Wenn man sich hinlegen würde und den blauen Himmel anschaut, dann ist das ja so, als würde man mitgezogen. Es wird nicht über einen gestülpt, sondern man wird mitgerissen."

2. Sprecher: Die Redewendung mit einem blauen Auge davonkommen bezieht sich allerdings nicht auf einen geheimnisvollen Vorgang. Vielmehr ist gemeint, einer Gefahr mit geringem Schaden entkommen zu sein. Eigentlich bezieht sich diese Redewendung auf etwas, das droht, das Auge zu gefährden beziehungsweise es zu verletzen, stattdessen aber nur einen blauen Fleck neben dem Auge hinterlässt.

Sprecherin: So, wie Sabine Schütt-Jandik die Farbe Blau einsetzt, um unruhige und nervöse Patienten wieder zur Ruhe zu bringen, so fungiert Blau auch in der Malerei als eine Farbe, durch die sich der Betrachter in das Kunstwerk versenken und verlieren kann. So findet man in der Sprache Redewendungen, in denen die Farbe blau als Kennzeichnung der unbekannten Ferne und des Unbestimmten dient.

O-Ton Andreas Reichel: "Man fährt ins Blaue. So ein Sonntagsausflug. Man fährt ins Blaue, was meint, es ist schönes Wetter, man fährt einfach nach draußen, und gleichzeitig meint man ja auch damit, dass irgendetwas passieren kann. Ist fast egal, was passiert. Es kann auch sozusagen etwas strapaziös werden, trotzdem ist es eine Fahrt ins Blaue, die an der Stelle dann eben als Ereignis gesucht wird, die irgendeinen Reiz hat, dass man eben kein Ziel hat. So ein bisschen wie in einem Chagall-Gemälde, wo man ja auch sozusagen immer sagen kann, Chagall reist mit jedem Gemälde ins Blaue. Eine Fahrt ins Blaue, wo er dann sogar die Leinwand rumdreht und von allen Seiten seine Motive einträgt. Auch wenn man an das Deckengemälde in der Pariser Oper denkt, da ist zwar nicht so viel blau, aber da geht es eben so im Kreis herum, und die Motive und die Ereignisse können von allen Seiten hereinpurzeln. Also wo auch der narrative Strom, dass also eins nach dem anderen passiert, nicht mehr ist. Sondern das ist ein Gemälde, das sich in einer blauen Verfassung befindet, wo fast alles gleichzeitig passiert und trotzdem die Ereignisse ihren eigenen Standort haben. So wie ein Zirkus mit drei Manegen. So ist Chagall auch der, der vornehmlich dunkle Blautöne verwendet. Da ist eben dann diese Fahrt ins Blaue, so in die Ereignisse hinein."

2. Sprecher: Bereits Goethes Zeitgenossen kannten die Redewendung der Fahrt ins Blaue. So heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1829 an den Dichter:

1. Sprecher: "Weil ich den Tag noch nicht bestimmen kann und ins Blaue hineinfahre."

2. Sprecher: Bei Fahrten ins Blaue lässt man sich, wie es Andreas Reichel richtig beschreibt, während einer Fahrt bereitwillig auf alles ein, was der Zufall einem bietet. Eine Fahrt ins Blaue ist ein Ausflug ins Ungewisse. Andreas Reichel dient die Redewendung außerdem dazu, dem Betrachter die Lesart der Bilder Chagalls vor Augen zu führen. Nicht zufällig war Chagall also ein Liebhaber der blauen Farbe. Nur sie machte es ihm möglich, den Betrachter auf phantasievolle Reisen zu schicken. Man kann auch ins Blaue hineinreden. Dann redet beziehungsweise handelt man ohne Plan und Zweck. Weniger geläufig ist die Wendung keine blaue oder blasse Ahnung von etwas haben.

Sprecherin: Eine ganz besondere Rolle spielte die Farbe Blau als Kennzeichnung des Unbestimmten und einer unbekannten Ferne in der Romantik.

O-Ton Andreas Reichel: "Diese große Sehnsucht nach der sogenannten Blauen Blume. Weil man darin die Quelle sucht oder fand, dass etwas Unverbrüchliches, Ungefärbtes, nicht durch Dokumente belagert, nicht durch irgendwelche Argumente, sondern an einem bestimmten Phänomen, an der Erscheinung, wie Licht und Farbe sich die Hand geben. Dass gerade im reinen Farbton, also im isolierten, im einzelnen Farbton, da am meisten von einer natürlichen Kraft zu finden ist."

2. Sprecher: Die Blaue Blume bezeichnet nicht nur etwas Unbestimmtes, sondern verdeutlicht auch ein menschliches Streben nach einem idealen Zustand. Der Begriff stammt von dem Romantiker Novalis, für den sich in der Natur und in ihren Farben etwas Göttliches offenbarte. Die Grundfarben, also auch die Farbe blau, versinnbildlichen in der Romantik etwas Reines und Ungekünsteltes, wie es Andreas Reichel in seinen Ausführungen richtig erläutert.

Sprecherin: Die Farbe blau kann also auch etwas Ursprüngliches, Ungekünsteltes bezeichnen. Nur in wenigen Redensarten spielt dieser Bedeutungshintergrund noch eine Rolle.

O-Ton Sabine Schütt-Jandik: "Steht auch für Treue. Treue blaue Augen. Das kann auch wieder kippen ins Naive, warum auch immer. Vielleicht weil es unschuldig ist, kann auch sein. Blau. Hat irgendwas wieder nach innen Gekehrtes, was Unschuldiges vielleicht."

2. Sprecher: Die Farbe Blau als Augenfarbe ist bekannt als Sinnbild der Treue, Durchsichtigkeit und Unverstelltheit. Blaue Augen gelten – besonders in der Literatur – als Brunnen der Klarheit, als erfrischende Quelle, als Labsal. So in einem Gedicht von Klaus Groth, das von Johannes Brahms vertont wurde:

1. Sprecher: "Dein blaues Auge hält so still.

Ich blicke bis zum Grund.

Du fragst mich, was ich sehen will?

Ich sehe mich gesund."

2. Sprecher: Da Neugeborene zunächst immer blaue Augen haben, verbindet sich mit der Blauäugigkeit zugleich die Vorstellung von "unschuldig", aber auch "naiv". Unverhohlener Spott liegt in der Redewendung, man habe jemanden nicht wegen seiner blauen Augen – oder nur wegen seiner blauen Augen – ausgewählt.

Sprecherin: Im volkstümlichen Sprachgebrauch kann Blau also auch eine eher negative Bedeutung haben. Dann verbindet man mit der Farbe Naivität, Täuschung, Verstellung und Lüge. Andreas Reichel nennt für diesen Bedeutungshintergrund ein Beispiel:

O-Ton Andreas Reichel: "Blauäugig im Sinne eines Narren, der einfach aus irgendeiner Spiellaune heraus sich traut, mal daneben zu sitzen und dann auch so bezeichnet werden kann. Jemand, der dann mehr wie Till Eugenspiegel daherkommt."

2. Sprecher: Bereits in älteren bildlichen Darstellungen von Redensarten, etwa in der flämischen Malerei, steht blau für Verstellung und Lüge. Häufig sieht man im Mittelpunkt dieser Bilder einen alternden Mann, der von seiner jungen Frau einen blauen Mantel umgehängt bekommt, das heißt von ihr betrogen wird.

Thomas Mann karikiert in seinem Tonio Kröger die Angehörigen der Oberschicht mit ihren blauen Augen und sprach "von den zwar liebenswerten, aber vor allem auch geistlosen Vertretern dieser blonden und blauäugigen Normalität". Wenn heute von politischer Blauäugigkeit die Rede ist, dann sind die Politiker gemeint, denen es an Wirklichkeitssinn fehlt, die unkritisch und vertrauensselig, das heißt blauäugig argumentieren. Man kann auch sein blaues Wunder erleben. Dann ist man düpiert und peinlich überrascht worden.

Sprecherin: Den Farben können übrigens nicht nur bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, sondern auch Elemente und Jahreszeiten. In der Naturheilkunde verbindet man die Farbe Blau zum einen mit dem Element Wasser und zum anderen mit dem Winter als Jahreszeit. Außerdem ordnet man den vier Grundfarben die wichtigsten menschlichen Organe zu: So versinnbildlicht Rot zum Beispiel das Herz und Blau Blasen und Nieren. Wenn ein Patient während der Behandlung in Form von Redewendungen auf ein bestimmtes Organ zu sprechen kommt, ist das für Sabine Schütt-Jandik ein erster Therapieansatz:

O-Ton Sabine Schütt-Jandik: "Hitzige Gemüter, aggressive Menschen, sollten sich vielleicht mehr mit blau umgeben, um diesen Part auszugleichen. Wenn blau nicht im Gleichgewicht ist, kann es auch sein, dass die Menschen Schwierigkeiten im Nieren- oder Blasenbereich haben. Es geht mir an die Nieren ist auch so ein Ding, ist etwas, was ganz tief geht, blau, wieder nach innen. Da guck ich schon genau hin, wenn einer mir den Satz sagt oder im Gespräch öfter wiederholt. Ich hatte eine Frau, die hatte Nierensteine, die immer wieder sagte, das ist mir an die Nieren gegangen. Da wusste sie noch nichts. Erst als ein Ultraschall stattgefunden hatte, da ist das festgestellt worden."

2. Sprecher: Wer alles zu schnell und unüberlegt angeht und seine Erregung nicht zügeln kann, hat ein hitziges Gemüt, ist ein Hitzkopf. Dann vereiteln Gefühle wie Enttäuschung, Angst oder Rachegelüste klares Denken und blockieren vernünftiges Handeln. Ein altes Sprichwort sagt:

1. Sprecher: "Hitz im Rat, Eil in der Tat

bringt nichts als Schad."

2. Sprecher: Trifft jemanden das Negative dann gar empfindlich, geht es ihm an die Nieren. Die Nieren galten im Mittelalter als Sitz der Gemütsbewegungen, insbesondere aber des Geschlechtstriebes, und wurden ertappten Ehebrechern bisweilen sogar ausgeschnitten. Doch bezeichnen die Nieren oft auch wie das Herz allgemein das Innere des Menschen, den Sitz der Lebenskraft.

Sprecherin: Den Patienten mit Nierenleiden empfiehlt die Naturheilpraktikerin häufig, sich vor blaues Licht zu setzen und so wieder zur Ruhe zu kommen. Vielleicht könnte es hitzigen Gemütern auch helfen, weniger zu arbeiten und stattdessen einfach mal blau zu machen.

2. Sprecher: Vor der Zeit des Färbens mit Indigo wurde in Europa die Wolle mit einer Wildpflanze gefärbt. Die Wolle musste, nachdem sie 12 Stunden im Farbbad gelegen hatte, ebenso lange an der Luft oxydieren. Sonntags ließ man sie 24 Stunden im Bad, worauf sie den ganzen Montag an der Luft liegen musste. Die Gesellen konnten dann müßig gehen, wenn die Wolle in solcher Weise blau gemacht wurde. Noch heute verwendet man die Redewendung blau machen, wenn jemand aus eigenem Entschluss nicht arbeiten geht.

Andernorts wird das Blaumachen auf den Montag vor Fastnacht zurückgeführt, der mit Volksbelustigungen gefeiert wurde. Im 16. Jahrhundert wurde es bei Handwerksgesellen üblich, nach der durchzechten Nacht vom Sonntag auf den Montag den halben oder ganzen Tag der Arbeit fernzubleiben. Die Herkunft des Adverbs blau in diesem Zusammenhang ist aber ungeklärt.

Sprecherin: Die Farbe Indigo gehört übrigens zu den dunkelsten Blautönen, die es gibt. Schon Goethe hatte in seiner bekannten Farbentheorie herausgefunden, dass ein dunkles Blau der Farbe schwarz am nächsten liegt, also ab irgendeinem Zeitpunkt aus der blauen Farbenskala hinein ins Schwarze verschwindet. Manchmal soll sich Goethe einfach vor sein Fenster gesetzt und den Schnee betrachtet haben, der draußen auf den Boden fiel. Dabei machte er die Entdeckung, dass sich der Schnee zur Abendzeit vom Weißen ins Blaue hinein verfärbte, bis er scheinbar ganz durch das Einbrechen der Nacht verschwunden war. Auch wir müssen uns jetzt von Ihnen verabschieden. Bevor diese Sendung vorbeigeht, gibt Ihnen Andreas Reichel noch ein kleines Farbenrätsel auf. Er möchte von Ihnen wissen, wann die Farbe blau am Abend sozusagen blau macht:

O-Ton Andreas Reichel: "Das können wir unsere Hörer bei der Stelle noch fragen, ohne dass wir es beantworten: Machen Sie sich mal die Mühe zu beobachten, am besten an mehreren Tagen, welche Farbe sich wann als erstes verabschiedet. Oder umgekehrt abends, wenn man irgendwo in der Dämmerung sitzt und beobachtet dann einfach mal, wie sich die Farben aus dem Tag davonstehlen, wie sie sich verabschieden, und welche Farbe eben als erste verschwindet und welche Farbe am längsten Treue hat zu mir als Beobachter. Das ist nämlich so, dass die nicht alle gleichzeitig verschwinden, und lange, nachdem man das Licht anmachen würde, wird man eine sehr schöne Verabschiedungszeremonie feiern können, weil die Farben sich einzeln verdünnen, bevor sie dann ins Graue verfallen, und da ist gerade reizvoll zu beobachten, wann sich die Farbe blau auf den Weg macht."

Antje Allroggen

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