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Du bist doch nicht normal

Haben wir wirklich noch "alle Tassen im Schrank" oder "ticken wir vielleicht nicht mehr richtig"? - Redensarten in der deutschen Umgangssprache.
Sprecherin: In den Haushalt jeder Familie gehört ein Küchenschrank mit Geschirr, um Töpfe und Pfannen, Tassen und Teller darin zu stapeln. Natürlich geht das eine oder andere zu Bruch. Das gehört zum Alltag, und so ein unvollständiger Hausrat gehört zur Normalität. Dennoch ist es für manche ärgerlich, wenn andere nicht alle Tassen im Schrank haben.
- O-Ton: "Jemand, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Bei ihm funktioniert nicht alles korrekt, würde ich sagen, im Oberstübchen. Also der Schrank, das wär‘ dann für mich eher das Gehirn, und er hat eben nicht alle Tassen in seinem Gehirn oder in seinem Schrank würde dann bedeuten für mich, er hat nicht alle Dinge da oben beisammen, die er braucht, um eine Sache zu erkennen."
Sprecher: Im Oberstübchen, also im Gehirn, funktioniert nicht alles ganz richtig, wenn jemand nicht alle Tassen im Schrank hat. Damit ist nicht etwa gemeint, dass jemand tatsächlich verrückt ist, sondern vor allem, dass er sich ungewöhnlich verhält.
- O-Ton: "Er verblüfft seine Mitmenschen mit einer Reaktion, die überhaupt nicht erwartet wird. Also das heißt, die Leute glauben, er hat nicht alle Tassen im Schrank, weil er etwas in einer Situation tut, was man eigentlich nicht tut, zum Beispiel auf der Autobahn an einer Baustelle: Man darf nur 50 fahren, und einer donnert auf der Überholspur mit 100 an einem vorbei; dann würde ich sagen, der hat nicht alle Tassen im Schrank." / "Einen Sprung in der Schüssel haben oder ein Rad abhaben, das ist alles auf einer Stufe." / "Du tickst nicht ganz richtig, man nimmt also irgendwelche Dinge, die aus dem täglichen Dingen bekannt sind, und ordnet diesen Dingen irgendeinen Fehler zu, und das projiziert man dann auf den Mensch."
Sprecher: Eine gesprungene Schüssel ist natürlich genauso wenig zu benutzen wie ein unvollständiges Fahrrad oder eine Uhr, die nicht richtig tickt. In der Umgangssprache werden diese Bilder häufig benutzt. Allerdings kommt es darauf an, wo und wie man sie verwendet.
- O-Ton: "Also ich denke, zum einen sagt man es mal vielleicht im Freundes- und Bekanntenkreis, aber eher scherzhaft und nicht so böse gemeint. Wenn man das jemandem Fremden sagt, dann denke ich, ist das schon eine kleine Beleidigung." / "Vielleicht auch als Äußerung, wenn man sich über einen geärgert hat, sitzt beispielsweise im Auto und brüllt's einfach raus, wohl wissend, dass der andere es überhaupt nicht hört."
Sprecherin: Scherzhafte Kritik oder Beleidigung, diese Grenze ist schwer zu ziehen. Und was tun, wenn eine Formulierung zu grob geraten ist? Nun, die meisten ärgern sich, und am nächsten Tag ist die Sache vergessen. Wenn nicht, helfen Männer wie Walter Endlein weiter. Er arbeitet als ehrenamtlicher Schiedsmann in Leverkusen.
- O-Ton: "Es sind im überwiegenden Fall Fälle, die im Nachbarschaftsstreit kommen, wo also nicht die Fäuste fliegen oder wo geschlagen oder mit Gegenständen geworfen wird, sondern da geht's also um verbale Beleidigungen, die im allgemeinen klein anfangen, mit geringen Sachen anfangen, zum Beispiel nicht geputzt worden ist. Und dann ‘nen Punkt, wo es an die Beleidigung geht, ist der Tonfall, wie man jemanden anspricht. Ob ich jemand angucke, aggressiv angucke und aggressiv anspreche, dann nimmt der andere diese Sache auch aggressiv entgegen und baut die auch innerlich aggressiv auf und sperrt sich gegen jede weiteren Gespräche und fühlt sich dann beleidigt. Wenn ich jetzt sage zum Beispiel, ach, du bist doch asozial, dann ist das ‘ne Sache, naja, da redet man so halt drüber, aber wenn ich sage, du, du bist asozial, dann ist das ’ne persönliche bezogene Sache, ist ein viel härterer Tonfall."
Sprecher: Der Begriff asozial umfasst ein breites Bedeutungsspektrum. In der Umgangssprache als Beleidigung ausgesprochen, heißt er soviel wie sozial schwach, schlicht und ordinär. Oft versteht man unter Asozialen Menschen am Rande der Gesellschaft. Asozial als Abkürzung von antisozial bedeutet eigentlich ungemeinschaftlich. So gebraucht ist der Begriff eher eine Kritik an Menschen, die nur an sich denken und vollkommen egoistisch handeln.
Sprecherin: Der Schiedsmann ist ein außergerichtlicher Schlichter, der sich darum bemüht, einen Rechtsstreit zu vermeiden und unnötigen Verwaltungsaufwand zu verhindern. In immerhin 50 Prozent der Fälle gelingt es ihm auch, die streitenden Parteien wieder zu versöhnen. Der größte Teil der Schimpfwörter, die Walter Endlein in seiner Laufbahn als Streitschlichter zu hören bekam, ist derberer Natur. Doch auch eher harmlos wirkende Begriffe können Menschen beleidigen.
- O-Ton: "Ich denke mal, zu jemanden zu sagen, du spinnst - im rheinischen Wortbrauch ist spinnen gleichzeitig mit verrückt zu setzen - und wenn Sie jemanden als verrückt bezeichnen, dann geben sie meines Erachtens eine Diagnose ab, der Mann ist also nicht ganz klar im Kopf, und damit bewerten Sie ihn, und damit ist das schon eine Beleidigung. Also denke ich einmal, wenn jemand sensibel ist, der könnte dieses auch so auffassen."
Sprecher: Auf das Spinnen, das Verarbeiten von Wolle, Flachs und Hanf, beziehen sich mehrere bildliche Wendungen - und das nicht nur im Rheinland. Der Begriff spinnen ist sehr verbreitet als Ausdruck für einen Menschen, von dem man glaubt, er würde nicht klar denken. Wenn jemand etwas ausgesponnen hat, unterstellt man ihm Erfundenes. Und mit der Ableitung Gespinst oder Hirngespinst wird eine vollkommen unrealistische Vorstellung bezeichnet. Auch das gesponnene Seemannsgarn, die phantastisch ausgeschmückten Erzählungen von Seefahrern, gehören in diesen Zusammenhang.
Sprecherin: Die Zahl der umgangssprachlichen Begriffe ist groß für die kleinen und großen Verrücktheiten der Mitmenschen. Sie zu erklären, fällt den meisten jedoch schwer. Um so schneller fallen den Befragten weitere Begriffe ein, die eine ganz ähnliche Bedeutung haben.
- O-Ton: "Ein bisschen doof, bescheuert, doof, ein Knallkopp, ein Weihnachtsmann, ein Armleuchter, der hat ein Erbs am wandre, da wandert eine Erbse durch sein Gehirn, übersetzt auf Deutsch." / "Oder er hat eine Schraube locker, oder er hat nicht alle Fünfe beisammen, früher sagte man, er hat ‘ne Meise unterm Pony."
Sprecher: Viele Begriffe spielen darauf an, dass ein Mensch durch eine Tat oder Sache in seinem Verhalten beeinträchtigt ist. Der Bescheuerte oder auch der Bekloppte kann durch einen Schlag nicht mehr klar denken. Genauso ist es, wenn eine Erbse durch jemandes Gehirn wandert, wie vorhin ein Passant sagte. Wenn ein Mensch einen Knall hat, dann war es die Lautstärke, die ihm die Sinne trübte. Viele Begriffe leben jedoch nur davon, dass sie ein Paradox darstellen. Jemanden als Weihnachtsmann oder Armleuchter zu bezeichnen, ist nicht weiter zu erklären als mit Lust am sprachlichen Spiel und einer zufälligen Begriffsentwicklung. Sprachgeschichtlich eindeutig zu klären ist das unscheinbare Wort doof, einer der meistgebrauchten Ausdrücke für jemanden, den man für dumm hält oder einfach unsympathisch findet. Doof ist das niederdeutsche Wort für taub, und vor allem in vergangenen Jahrhunderten betrachtete man taube Menschen wegen ihrer mangelnden Verständnismöglichkeit oft als dumm oder gar geistesgestört.
Sprecherin: Viele Ausdrücke, die auf eine vermeintliche geistige Schwäche anspielen, sind austauschbar. Sie deuten in sehr allgemeiner Weise ein Verhalten als unnormal im Sinne von verrückt. Die Umgangssprache hat aber auch Wendungen für spezielle Charaktere parat.
- O-Ton: "Der Jagdschein, das hat zu tun mit dem Paragraph 51, und das ist für die, die immer Wiederholungstäter werden und denen man eigentlich, die nur noch psychiatrisch behandelt werden können. Also für die kein anderes Normalmaß mehr in Frage kommt. Also so hoffnungslose Fälle wie zum Beispiel mit dem Führerschein, der immer wieder die gleichen Verkehrsübertretungen macht. Der sich nicht abschrecken lässt davon, dass sie ihm den Führerschein abnehmen, dass er Geldstrafen zahlen muss, vielleicht noch Wochenenden im Gefängnis verbringen muss oder was. Der immer wieder sagt: ach was soll das, das mach‘ ich mit links."
Sprecher: Ein Mensch, der einen Jagdschein hat, gilt als unzurechnungsfähig - und zwar gerichtlich bestätigt. Ob als scherzhafte Kritik oder böswillige Unterstellung geäußert, mit der Redewendung wird ein Mensch als hoffnungsloser Fall beschrieben, als jemand, der in seinem Verhalten nicht ernst zu nehmen ist. Der Ausdruck bezieht sich darauf, dass der Inhaber eines tatsächlichen Jagdscheins in seinem Revier legal jagen, also Dinge tun darf, wofür andere bestraft werden.
Sprecherin: Wer in den Ruf gerät, einen Jagdschein zu haben, scheint sich wenig darum zu kümmern, was andere von ihm denken. Er sieht nicht oder will nicht sehen, dass er mit seinem Verhalten andere stört. Solch unempfindliches Auftreten gibt es natürlich auch fern jeder Verrücktheit. Umgangssprachlich wird dann häufig gesagt, jemand habe ein Brett vor'm Kopf.
- O-Ton: "Brett vor‘m Kopf, na, das ist, wenn ich so borniert und auf meine eigene Meinung bestehe, würde ich sagen, und keine andere neben mir gelten lasse, also dass nur das Meine Bestand hat, würde ich jetzt so sagen. Nach mir kommt nichts und niemand. Und niemand weiß es besser und kann es besser und wird es besser können, also einfach keine andere Meinung neben sich gelten zu lassen."
Sprecher: So ein Brett vor'm Kopf verhindert bildlich betrachtet, andere Menschen zu sehen, übertragen bedeutet es, ihre Bedürfnisse nicht zu achten. Eine eingeschränkte Sicht haben aber nicht nur Ignoranten. Die Realität aus dem Blick zu verlieren, das passiert auch manchem Wissenschaftler oder Dichter. Sie werden von der Umgangssprache gerne in den Elfenbeinturm gesteckt.
- O-Ton: "Elfenbeinturm ist: Jemand hat sich sein Schloss gebaut, der hat sich seine Welt gezimmert, auf der er jetzt so sitzt und thront und sitzt da jetzt einfach auf seinen Überzeugungen, auf seinen Vorstellungen und hofft, dass keiner dran rüttelt, dass der Turm zusammenbricht."
Sprecher: Zu sagen, jemand sitze im Elfenbeinturm ist eine gängige Redewendung und stammt als Lehnübersetzung aus der französischen Literaturkritik. Der Elfenbeinturm steht für die Isolation des Künstlers, der sich vom Weltgeschehen zurückzieht und nur der reinen Kunst widmet. Ebenso bezeichnet der Elfenbeinturm den Wissenschaftler, der weder auf praktischen Nutzen noch die Konsequenzen seiner Forschung achtet.
Sprecherin: Die Bewohner des Elfenbeinturmes sind also nicht verrückt, sondern nur der Welt entrückt, sind weder krank noch unzurechnungsfähig und richten sich doch nicht nach der Normalität. Neben den scheinbar Verrückten, den Entrückten und den Ignoranten, gibt es noch andere, die in der Umgangssprache einen besonderen Platz haben.
- O-Ton: "Wenn man sich, denke ich, ein Bild gemacht hat und auf einmal entspricht jemand dem überhaupt nicht mehr. Oder jemand ist zum Beispiel im Supermarkt, und man sagt da, ja, da verhält man sich einfach so und so, und auf einmal sitzt jemand in einem Einkaufswagen und wird durch die Gegend geschoben. Da ist der aus der Rolle gefallen. Also aus der Rolle fallen ist, wenn, denke ich, jemand ein ganz klares Bild hat von einer Situation, wie sie aussehen soll und jemand entspricht dem nicht. Wenn er vielleicht aufbraust oder so ein bisschen jähzornig ist auch, also unbeherrscht sein."
Sprecher: Menschen, die aus der Rolle fallen, entsprechen nicht dem Bild, das man von ihnen erwartet: ein Bankangestellter, der ein ungewaschenes Hemd trägt, ein Vorgesetzter, der seine Angestellten anschreit, ein Religionslehrer, der auf Rollschuhen zum Unterricht kommt. Solche Menschen fallen aus der Rolle oder auch aus dem Rahmen, dem Rahmen des Gewohnten und Etablierten, ebenso wie jene, die aus der Reihe tanzen.
- O-Ton: "Manchmal sind die auch unhöflich, ne, die aus der Reihe tanzen, finde ich, manchmal sind die unhöflich." / "Zum Beispiel, wenn jetzt die Sonne so schön scheint, und hier rennt jetzt einer mit dem Regenschirm rum, der halt der normalen Verhaltensweise nicht entspricht, aber ohne jetzt dabei anstößig und gesetzeswidrig und sonst in irgendeiner Form belästigend zu wirken." / "Einer der bescheuert ist, der weiß eigentlich nicht, was er tut, der, der aus der Reihe tanzt, der weiß, was er tut, aber ermöchte auffallen um jeden Preis."
Sprecherin: Sprachlich sind wir heute sicher etwas aus dem Rahmen gefallen, aber wir wollten damit keinesfalls aus der Reihe tanzen und um jeden Preis auffallen. Getreu unserem Motto, dem Alltagsdeutsch auf der Spur zu bleiben, haben wir uns nicht in den Elfenbeinturm, sondern auf die Straße begeben. Und eines versichern wir Ihnen, es war kein bisschen gesponnenes Seemannsgarn dabei.
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