Heinz Schindler | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.
Alltagsdeutsch (29/04) 20.07.2004 "Die Nacht"

Die Nacht
Sprecher: Anders als heute, da viele bunte Leuchtreklamen die Menschen gerade am Abend in die Städte locken, war es früher: Nur der Nachtwächter – den Begriff kennt man seit dem 15. Jahrhundert – wanderte durch die dunklen Straßen und sorgte für Sicherheit. Heute sind Nachtwächter-Rundgänge im historischen Gewand eine Attraktion für Touristen. In Stade, nahe Hamburg, laden uns Dr. Lore Lemke und Helga Schaller zu einem Spaziergang ein.
- O-Ton: "Hört Ihr Leut’ und lasst Euch sagen, fünf Uhr hat die Glock’ geschlagen. Wer sein Tagwerk jetzt getan, der ist auf der rechten Bahn. - Wie Sie sehen: Ich habe eine Laterne angezündet, damit Sie nicht im Dunkeln tappen, sondern alles gut sehen können. Hier steht unsere Fischfrau. Sie hat aber nicht im Trüben gefischt."
Sprecherin: Nachtwächter gaben die Zeit immer in der Form eines Liedes bekannt, zumeist ist es ein ebenso einfacher wie kurzer Reim. Das althochdeutsche Wort Tagwerk ist heute sehr selten in Gebrauch. Es bezeichnet die Arbeit, mit der man sich früher einen Tageslohn verdiente.
Sprecher: Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes recht ist gerade. Heute wird es eher im Sinne von richtig verwendet. Wer also auf der rechten Bahn ist, der befindet sich – auch im übertragenen Sinn – auf einem richtigen Weg.
Sprecherin: Auf den griechischen Dichter Aesop geht der Ausdruck im Trüben fischen zurück. In einer seiner Fabeln erzählt er von einem Fischer, welcher das schlammige Flussbett aufwirbelte und somit das Wasser trübte, damit ihm die Fische leichter in sein Netz gingen. Übertragen in unsere Umgangssprache bedeutet, im Trüben fischen, sich aus einer unklaren Lage Vorteile zu verschaffen.
Sprecher: Die Redewendung im Dunkeln tappen ist biblischen Ursprungs. So heißt es im 5. Buch Moses nach der Übersetzung von Martin Luther: "Der Herr wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Verwirrung des Geistes. Und du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder tappt im Dunkeln, ..." Heute meint man mit dieser Redewendung, in einer Angelegenheit, die es aufzuklären gilt, noch keine Lösungsmöglichkeit gefunden zu haben. Im Zusammenhang mit polizeilicher Aufklärungsarbeit findet im Dunkeln tappen häufiger Verwendung.
- O-Ton: "Wir sind jetzt in der Hökerstraße. Die Straßen der norddeutschen Stadt Stade waren früher alle stockfinster. Es gab weder Strom noch Gas. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Im Dunkeln mussten die Nachtwächter aufpassen wie Schießhunde. Auch wegen der morastigen Straßen mussten sie vorsichtig sein, damit sie nicht ausrutschten und ihnen die Halunken nicht durch die Lappen gingen. – Hökerstraße heißt es deswegen, weil hier früher Höker gehandelt haben. Höker waren die armen Händler, die noch keine festen Stände hatten und keine eigenen Läden."
Sprecherin: Das ostmitteldeutsche Wort Höker bezeichnet einen Händler, der seine Ware auf dem Rücken zum Markt trägt. Ein altes Wort für Rücken ist Hucke. Aus dem Substantiv Höker leitet sich das heute umgangssprachlich verwendete Verb verhökern ab. Es meint, etwas zum Kauf anzubieten – zumeist unter seinem Wert oder zu Geld zu machen. Es unterscheidet sich von verkaufen dadurch, dass es spöttisch oder abwertend gebraucht wird, sowohl auf die Ware als auch auf den Verkäufer bezogen.
Sprecher: Als Schießhund bezeichnet die Jägersprache diejenigen Hunde, die zur Jagd abgerichtet wurden, um angeschossenes Wild aufzuspüren. Wer aufpasst wie ein Schießhund - diese Redewendung ist seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich – der ist sehr aufmerksam. Nichts und niemand entgeht ihm oder geht ihm durch die Lappen: eine weitere Redewendung aus der Jägersprache.
Mit Lappen grenzten die Jäger bei einer Treibjagt die Fluchtmöglichkeiten des Wildes ein. Durchbrach es diese Begrenzung, so ging es durch die Lappen. So sagt man auch heute noch salopp für entkommen oder entwischen.
Sprecherin: Wie Abend, so kann auch der Begriff Nacht den Tag vor einem Fest näher bezeichnen: Die heilige Nacht oder Heiligabend ist der Tag vor Weihnachten; Fastnacht bezeichnet den Tag vor Aschermittwoch, dem Beginn der Fastenzeit.
- O-Ton: "Mit dem Ruf des Nachtwächters: Garaus! wurde seit dem 15. Jahrhundert die Polizeistunde in den Wirtshäusern geboten. Die Gäste mussten nun das Wirtshaus verlassen. Nachtschwärmer sollten sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen. In früheren Zeiten hätten sie um diese Stunde unsere Stadt nicht mehr verlassen können. Bei Anbruch der Dunkelheit kontrollierte der Nachtwächter, ob die Tore geschlossen waren. Wer in die Stadt strebte oder Stade verlassen wollte, musste vor Toresschluss am Tor sein oder bis zum nächsten Morgen warten. Bei uns ist jetzt Toresschluss."
Sprecher: Als Nachtschwärmer bezeichnet man seit dem 17. Jahrhundert Leute, die sich spät abends und nachts intensiv dem geselligen Leben hingeben.
Früher verhinderte dies der Nachtwächter. Mit dem Ruf Garaus!, der substantivischen Entsprechung zu ganz aus oder vorbei, zeigte er das Tagesende an. Reden wir heute davon, jemandem oder etwas den Garaus zu machen, so wird einer Person oder einer Sache ein abruptes Ende bereitet.
Sprecherin: Wer sich die Nacht um die Ohren schlägt, der bleibt nachts wach. Sei es, weil er feiert, weil er arbeitet oder weil er einfach nicht schlafen kann.
Sprecher: Im Mittelalter waren die Städte durch Mauern befestigt. Auf legale Art und Weise gelangte man nur durch Stadttore in die Städte. Der Toresschluss bezeichnete ursprünglich das tägliche Abschließen der Stadttore. Heute steht das Wort ganz allgemein für die Beendigung eines Vorgangs.
Sprecherin: Erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte sich der Begriff Torschlusspanik. Bedeutet er allgemein die Angst, etwas zu versäumen, so bezieht er sich vor allem auf die Angst vieler Frauen, aber immer häufiger auch Männer, nicht rechtzeitig den Partner oder die Partnerin für’s Leben zu finden.
Sprecher: Verlassen wir nun Stade und gehen weiter nach Bad Bentheim an der Grenze zu den Niederlanden. Hier führt Helmut Riestenpatt sein Publikum durch die nächtliche Altstadt.
- O-Ton: "Wahrlich im Dunkeln tappen und ich versuche, Ihnen dann den richtigen Weg zu zeigen, Ihnen heim zu leuchten. Vornehmlich sind es hier Hotelgäste in Bad Bentheim beziehungsweise Badegäste, die dann zu unseren offenen Führungen mit dem Nachtwächter sich Bad Bentheim aus den unterschiedlichsten Perspektiven einmal ansehen und man muss wirklich sagen, manchmal sind es auch uralte Bentheimer, die ganz neue Aspekte von ihrer Heimatstadt dadurch bekommen."
Sprecher: Um ein uralter Einwohner einer Stadt zu sein, bedarf es übrigens keines Mindestalters. Vielmehr verweist uralt auf eine nicht näher bestimmte, lange Zeitspanne. In unserem Beispiel bedeutet uralt, dass jemand ein langjähriger Einwohner Bad Bentheims ist.
Sprecherin: Doch obwohl er sich auskennt, nimmt er an einer offenen – das heißt für jedermann zugänglichen – Führung teil und lässt sich vom Nachtwächter heim leuchten. Dieses Wort wurde zu Zeiten der mittelalterlichen Nachtwächter noch im eigentlichen Wortsinn gebraucht. In der heutigen Umgangssprache bedeutet jemandem heimleuchten allerdings, es ihm heimzahlen, das heißt in aller Regel Übles mit Üblem vergelten.
Sprecher: Zu Zeiten der Germanen war man der Auffassung, dass die Nacht dem hellen Tag voraus geht, statt ihn zu beenden. Somit wurde die Nacht zur Grundlage der Zeitrechnung. Dies galt bis ins Mittelalter hinein. So übersetzte Martin Luther das 5. Buch Mose, Kapitel 28, Vers 66, mit den Worten "Nacht und Tag wirst du dich fürchten".
Sprecherin: Regional wird das Wort Nacht recht unterschiedlich gebraucht. Von Nacht spricht man im süddeutschen Raum schon dann, wenn man im Norden noch das Wort Abend verwendet. Während der Norddeutsche vom Abendbrot spricht, redet man im Süden eher vom Nachtessen oder Nachtmahl.
Sprecher: Im übertragenen und auch im literarischen Sinn steht der Begriff der Nacht für das Geheimnisvolle, das Irrationale und Unbewusste, aber auch für Tod, Triebleben, Unverständnis und Verblendung. Auf letzteres bezieht sich die umgangssprachliche Redewendung, jemand sei dumm wie die Nacht. Das meint sehr dumm. Der Ausdruck der geistigen Umnachtung, in der sich ein Mensch befindet, spielt auf eine Zustand an, in dem jemandem der Verstand fehlt.
Sprecherin: Das Wort Nachtwächter wird auch als Schimpfwort verwendet, ähnlich wie Schlafmütze. Nachtwächter gelten als langsam, dumm und einfältig, obwohl der Nachtwächterberuf durchaus anspruchsvoll war.
- O-Ton: "Der Nachtwächter hatte nicht nur die Stunden auszututen, sondern er hatte auch darauf zu achten, dass hier in der Stadt kein Brand ausbrach und er hatte oberdrein gewisse polizeiliche Aufgaben, also so lichtscheues Gesindel musste er dingfest machen. Er musste beispielsweise darauf achten, dass in der Stadt also Ruhe, Frieden und Ordnung herrschten. Es konnte also ihm vorkommen, dass er hier in einem der Häuser plötzlich um Mitternacht einen fürchterlichen Lärm hörte: eine Frau verdrosch ihren Mann! Was sollte er tun? Er löste das Problem auf seine Art und Weise. Hört Ihr Leut’ und lasst Euch sagen: meine Frau hat mich geschlagen. Hütet Euch vor dem Weiberrock, zwölf ist die Glock’, zwölf ist die Glock’. Und damit hatte er es an die große Glocke gehängt und es kehrten wieder Ruhe, Frieden und Ordnung ein. So einfach ist .. äh, war das." (Lacher blenden).
Sprecher: Dreschen ist in unserer Sprache ein sehr altes Wort. Im Frühneuhochdeutschen erhielt es die Bedeutung des Prügelns und kräftigen Schlagens. Wird jemand verdroschen, so wird er durch Schläge übel zugerichtet. Wenn nicht – wie in unserem Beispiel – von der eigenen Frau, so aber häufig von lichtscheuem Gesindel. Dieser Ausdruck aus dem 16. Jahrhundert bezieht sich auf die Welt des Gaunertums. Wer lichtscheu ist, hat etwas zu verbergen und meidet daher die Öffentlichkeit.
Sprecherin: Ganz das Gegenteil meint die Redewendung etwas an die große Glocke hängen, die in unserer Umgangssprache häufig gebraucht wird. Was an der großen Glocke hängt, wird laut an die Öffentlichkeit gebracht – auch, wenn es eigentlich geheim bleiben sollte.
Sprecher: Nachtwächter machten auch Diebe dingfest. Die älteste Bedeutung des Wortes Ding ist diejenige einer Volksversammlung oder Gerichtsverhandlung. Wer sich ihr entzog, war dingflüchtig. Hierzu bildete sich das Gegenwort dingfest. Wer dingfest gemacht wird, der wird festgenommen, verhaftet.
Sprecherin: Bei seinen Führungen lässt Helmut Riestenpatt auch ein dunkles, ein sehr trauriges und tragisches Kapitel der Geschichte nicht aus:
- O-Ton: "Und als dann der europäische Antisemitismus und insbesondere der nationalsozialistische Rassenwahn immer stärker wurden, zogen die meisten hier weg bis auf zwei Männer, die dort im Haus 36 mir gegenüber wohnten. Sie mussten noch den Judenstern tragen und sind dann in einer Nacht- und Nebel-Aktion im Februar des Jahres 1942 verschwunden, muss man sagen. Niemand hat wieder von ihnen gehört oder sie gesehen. Auch ein Stück Bentheimer Geschichte."
Sprecher: Als Nacht- und Nebel-Erlass wurde während der Herrschaft der Nationalsozialisten ein Erlass Hitlers bezeichnet, auf dessen Weisung hin Wiederstandskämpfer in besetzten Gebieten ohne jede Mitteilung in Konzentrationslager transportiert oder aber hingerichtet werden konnten.
Der Ursprung der daraus hervor gegangenen Redewendung Nach- und Nebel-Aktion ist heute nur wenigen bekannt. Auch lässt ihre Verwendung keine Rückschlüsse auf die Gesinnung ihres Benutzers zu. Die Alliteration Nacht und Nebel deutet an, dass man weder weit sehen noch viel erkennen kann. Was bei Nacht und Nebel geschieht, das geschieht heimlich und im Verborgenen. Oft ist es verboten.
Sprecherin: Ähnlich düster klingt die Redewendung von der Nacht der langen Messer. Zunächst bezeichnete sie ein nächtliches, grausames Morden, heute meint man eher einen langen Entscheidungskampf, etwa bei Verhandlungen, die sich bis zum frühen Morgen hinziehen.
Sprecher: Spricht man aber davon, dass etwas über Nacht geschieht, so meint man keinen langwierigen Prozess, sondern im Gegenteil, eine unerwartet schnelle Wandlung. Wer etwa über Nacht berühmt wird, der steht schlagartig im Blick der Öffentlichkeit.
Sprecherin:
Das ist bekanntlich nichts für Nachtwächter. Sie haben ihre Auftritte, wenn – wie das Sprichwort sagt – alle Katzen grau sind: nachts!
- O-Ton: "Diese alte Stadt hat ja wirklich auch ihre Geheimnisse. Wissen Sie, in einer Stadt mit nur moderner Architektur würde sich so etwas gar nicht anbieten. Also auf jeden Fall empfehle ich jedem, einmal dem Nachtwächter eine Stunde lang zu folgen und dann vielleicht aufgrund der Anregungen, die er bekommen hat, auf eigene Faust Bentheim zu erleben; meinetwegen auch die Nacht zum Tage zu machen."
Sprecher: Wer die Nacht zum Tage macht, der muss entweder, etwa in der Nachtschicht, die Nacht hindurch arbeiten, oder aber er gehört zu den schon erwähnten Nachtschwärmern. Dann nimmt er regelmäßig und auch intensiv bis in die Nacht hinein am gesellschaftlichen Leben teil. Dazu gehören die Besuche von Kinos, Bars, Diskotheken und Kneipen. Kurz: das Nachtleben einer zumeist größeren Stadt. Bezogen auf Kleinstädte wie Bad Bentheim verwendet man den Begriff Nachtleben eher ironisch.
Sprecherin: Das althochdeutsche Wort Faust steht für rohe Gewalt. Zwar muss diese heutzutage nicht mehr anwenden, wer etwas selbständig und auf eigene Verantwortung unternehmen möchte. Dennoch sagen wir, wir handeln auf eigene Faust. Etwa, indem wir uns dem Nachtleben widmen, nachdem sich der Nachtwächter verabschiedet hat.
- O-Ton: "Hört Ihr Leut’ und lasst Euch sagen: Unsere Glock hat zehn geschlagen. Zehn Gebote setzt Gott ein, auf dass wir gehorsam sei’n. – Menschen wachen kann nichts nützen, Gott muss wachen, Gott muss schützen. Herr, in deiner Güt’ und Macht, gib’ uns eine gute Nacht. – Ja, und damit endet der Rundgang mit dem Nachtwächter durch Bad Bentheim. Ich hoffe, Herz, Kreislauf und Kondition sind kräftig bei Ihnen gestärkt worden und noch mehr hoffe ich, dass es keine verlorene Stunde für Sie war. Danke schön."
Heinz Schindler | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.