Drucken

Hanno Murena | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.

Alltagsdeutsch (51/04) 21.12.2004 "Wintergedichte"

"Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht" - Deutschland im Winter

Wintergedichte

Zitator:

"Und dräut der Winter noch so sehr

mit trotzigen Gebärden,

und streut er Eis und Schnee umher,

es muss doch Frühling werden".

Sprecher: So beginnt der national- konservative Dichter Emanuel Geibel aus der norddeutschen Ostseestadt Lübeck sein Wintergedicht mit dem Titel "Hoffnung".

Sprecherin: Diese ersten Zeilen sind charakteristisch für fast alle Gedichte, die sich mit dem Winter befassen. Ganz selten nur wird die kalte Jahreszeit als angenehm empfunden. Kaum ein Wintergedicht ist ausgelassen und fröhlich. Unterschwellig klingt meist an, was Emanuel Geibel ganz programmatisch in der Gedichtsüberschrift ausdrückt: die Hoffnung, dass der Winter schnell wieder vorübergeht, "es muss doch Frühling werden", sagt er mit Nachdruck.

Sprecher: Der Winter dräut, heißt es in Geibels Gedicht. Gewiss, ein heutzutage etwas altmodischer Ausdruck. Dräuen bedeutet drohen, im weiteren Sinne bedrängen. Der Winter droht also mit seinen mächtigen Gebärden. Das Wort geht auf "gebaren" für benehmen oder betragen zurück. Gemeint ist, dass der Winter, mit der Art und Weise wie er auftritt, bedrohlich wirkt.

Sprecherin: Viele Wintergedichte gibt es nicht in der deutschen Sprache, längst nicht so viele wie Frühlings- oder Sommergedichte. Auch sind die meisten dieser Verse älteren Datums, sie stammen aus einer Zeit, als der Mensch noch viel abhängiger von den Jahreszeiten, vom Wetter, und weitaus mehr als im 21. Jahrhundert mit der Landwirtschaft verbunden war. Deshalb kommt uns die Dichtersprache heute manchmal ein wenig altmodisch vor.

Sprecher: So heißt der Frühling in diesen älteren Gedichten – wie auch bei Geibel – oft Lenz. Lenz geht auf das althochdeutsche Wort "lenzo" zurück und bezeichnet die Zeit der länger werdenden Tage – genau das, was der Dichter mit seiner Hoffnung auf den Frühling meint: mehr Licht, mehr Wärme, aufkeimendes Leben.

Sprecherin: Wer sich also der deutschsprachigen Lyrik widmen möchte, muss auch diese überkommenen Ausdrücke verstehen. Oft sind sie viel ausdruckvoller als die der späteren, der neueren Dichtersprache, auf jeden Fall aber von lautmalerischer Kraft.

Sprecher: Emanuel Geibel lebte im 19. Jahrhundert. Seine Lyrik ist von klassizistischer Formschönhit und romantisch-deutschen Empfindungen getragen. Hier weitere Beispiele aus seinem Gedicht "Hoffnung":

Zitator:

"Blast nur, ihr Stürme,

blast mit Macht,

mir soll darob nicht bangen,

auf leisen Sohlen über Nacht

kommt doch der Lenz gegangen..."

Sprecher: Darob ist eine dichterische, veraltete Variante für deswegen. "Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht", - mir soll deswegen also nicht bange sein, ich soll deswegen nicht ängstlich werden, könnte es heute weniger schön heißen.

Sprecherin: Friedrich Wilhelm Weber, ein westfälischer Arzt und Lyriker, im 19. Jahrhundert ein Zeitgenosse Geibels, lässt in seinem Gedicht "In der Winternacht" ebenfalls Hoffnung auf die wärmere Jahreszeit anklingen, und er kann der kalten Jahreszeit auch eine tröstliche Seite abgewinnen.

Zitator:

"Es wächst viel Brot in der Winternacht,

weil unter dem Schnee frisch grünet die Saat;

erst wenn im Lenze die Sonne lacht,

spürst du, was Gutes der Winter tat. –

Und deucht die Welt dir öd und leer,

und sind die Tage dir rau und schwer,

sei still und habe des Wandels acht:

es wächst viel Brot in der Winternacht."

Sprecherin: "Und deucht die Welt dir öd und leer…" - Weber greift hier auf ein sehr altes Wort zurück, ein Wort, das schon beim Reformator Martin Luther auftaucht, im 18.Jahrhundert dann gebräuchlich war und heute beinahe vergessen ist: deuchte, deucht, mal mit "e u" geschrieben, mal mit "ä u" – das Wort hängt eng mit "denken" zusammen und mit dem älteren Ausdruck dünken, dünkt. Etwas frei in die heutige Sprache übertragen, könnte die Gedichtszeile lauten: "Und scheint die Welt dir öd und leer…" oder einfach: "Und kommt dir die Welt öd und leer vor…"

Sprecher: Zweifellos klänge das Gedicht Friedrich Wilhelm Webers dann weit weniger authentisch, es wäre aus seiner Zeit herausgerissen.

Zitator:

"Wie nun alles stirbt und endet

Und das letzte Rosenblatt

Müd sich an die Erde wendet,

in die warme Ruhestatt:

So auch unser Tun und Lassen,

was uns heiß und wild erregt,

unser Lieben, unser Hassen

sei ins welke Laub gelegt."

Sprecherin: "Erster Schnee" heißt dieses Gedicht des Schweizer Erzählers und Lyrikers, Gottfried Keller, der zeitweise in Deutschland lebte - auch er übrigens ein Dichter des 19. Jahrhunderts. Besonders bekannt sind bei uns sein autobiographischer Roman "Der grüne Heinrich" und die Novellensammlung "Die Leute von Seldwyla". Keller galt in seiner Lyrik zwar als eher spröde – aber, wie diese erste Strophe beweist, stimmt das nicht so absolut.

Sprecher: In der zweiten Strophe verwendet er das Wort "Gräber", in der ersten jedoch spricht er nicht vom Grab, sondern von der Ruhestatt - ein gutes Beispiel dafür, wie ein Dichter seinen Versen durch die Wortwahl mehr Aussagekraft, mehr Inhalt verleihen kann. Ruhestatt – das ist die Stätte, der Ort also, an dem jemand nicht einfach nur begraben liegt, sondern Ruhe, die letzte, endgültige Ruhe findet.

Sprecherin: Ein anderes, schön und romantisch klingendes Dichterwort ist das Wort Firmament. Alfred Henschke, Romanautor, Erzähler und Lyriker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sich "Klabund" nannte, gebraucht es in seinem Gedicht "Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht". Hier die ersten beiden Strophen:

Zitator:

"Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht.

Der D-Zug rauscht. Der Schneesturm kracht.

Ich press ans Fenster mein Gesicht:

O Himmelslicht! O Himmelslicht!

Und blank entsteigt dem dunklen Wald

Des ewigen Baumes Lichtgestalt.

Der Schleier fällt vom Firmament,

Und Sonne, Mond und Stern entbrennt."

Sprecherin: "Der Schleier fällt vom Firmament" – ein Wort mit einer wunderbaren Geschichte. Prosaisch ausgedrückt bedeutet es einfach Himmel oder Himmelsgewölbe. Bei der Entschlüsselung des spätlateinischen Ursprungs "firmamentum" stößt man jedoch schon auf die vielsagende Bedeutung: "das über der Erde Befestigte". Das klingt gleich ganz anders als nur Himmel.

Nach mittelalterlicher Vorstellung hatte jeder der sieben Planeten eine eigene Sphäre für sich. Und darüber wölbte sich dann eine achte Sphäre, an der die Fixsterne befestigt sein sollten, das Firmament.

Sprecher: Es sind also die Dichterworte, die vom Üblichen, ja vom Alltäglichen abweichen, die der Lyrik besondere Ausdruckskraft und Stimmung verleihen. So kann man durch eine Tür gehen, auch durch ein Tor. Für den Dichter gibt es aber noch ein viel stärkeres Wort: die Pforte, lateinisch "porta". Das deutsche Wort Pforte tritt in abgewandelter Schreibweise schon im althochdeutschen Sprachgebrauch auf und hat sich über das Mittelhochdeutsche bis heute erhalten. Noch immer sprechen wir zum Beispiel von der Himmelspforte, was viel sinnlicher als Himmelstür klingt. Dichter stellen das Wort Pforte deshalb auch in besondere Zusammenhänge.

Sprecherin: Eduard Mörike, ein Pfarrer und Literaturlehrer, an dessen 200. Geburtstag wir gerade erinnert haben, zählt zu den ganz großen deutschen Lyrikern. In seinem Gedicht "An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang" wählt auch er, und zwar in der dritten Strophe, das Wort Pforte – statt Tür oder Tor.

Zitator:

"Bei hellen Augen glaub ich doch zu schwanken;

ich schließe sie, dass nicht der Traum entweiche.

Seh ich hinab in lichte Feenreiche?

Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken

zur Pforte meines Herzens hergeladen,

die glänzend sich in diesem Busen baden,

goldfarbgen Fischlein gleich im Gartenteiche?"

Sprecherin: Die Pforte des Herzens – wie banal würde es klingen, wenn Mörike seinen "Bildern und Gedanken" schlicht durch eine Tür Eingang ins Herz gewährte. Und dann "baden" sich die "Bilder und Gedanken" glänzend im Busen, nicht in der Brust, oder schrecklich diesseitig im Oberkörper, denn dort bezeichnet der Begriff eigentlich die Stelle zwischen den Brüsten.

Sprecher: Für den Dichter ist der Busen jedoch mehr: Er ist der Ort des Herzens, er ist auch der Ort des Bewahrens uneingestandener Gefühle, der heimlichen Liebe und des Zweifels,

ein romantischer Ort des Schmerzes und des Leidens, der Wonne und des Glücks.

Sprecherin: Die Wortwahl bestimmt die Stimmung eines Gedichts meist mehr als der textliche Sinnzusammenhang selbst. Wintergedichte sind deshalb oft düster, also von dunkler Stimmung. Der Winter steht nicht selten für das Lebensende, für Siechtum und Tod. Er spiegelt auch Leid und Trostlosigkeit.

Zitator:

"Der Wind umheult die Kirchhofsmauer.

Des Todes karges Deputat

ist ein vereister Blätterschauer

der Eichen auf den letzten Pfad.

Sprecherin: Der Lyriker Peter Huchel ist Anfang vergangenen Jahrhunderts in Berlin geborenen. In dieser vierten Strophe seines Dezember-Gedichts spürt man geradezu, wie die Wortwahl die Stimmung des Verses prägt. Der Wind weht nicht einfach stark – er umheult die Kirchhofsmauer. Heulen – der Ausdruck geht auf den Schrei der Eule, also eines Nachtvogels, zurück. Unheimlich fegt der Wind um die Mauer des Kirchhofs, früher – und gelegentlich auch noch heute – der Friedhof neben der Kirche.

Sprecher: Das karge Deputat des Todes ist die dürftige, die äußerst geringe Entlohnung, die der Tod zu bieten hat, nämlich ein vereister Blätterschauer der Eichen auf den letzten Pfad. Und dieser letzte Pfad ist nichts anderes als der Friedhofsweg zum Grab.

Sprecherin Hier wird deutlich, wie stark auch Peter Huchel in seiner Dichtung aus Naturbildern, aus Metaphern die heute nicht unbedingt mehr jedem verständlich sind, geschöpft hat.

Sprecher: Ein anderes Wintergedicht, welches früher einmal jeder Schüler auswendig lernen musste, zeigt uns die gefährliche Seite der kalten Jahreszeit. Es heißt "Das Büblein auf dem Eis" und stammt von Friedrich Güll.

Zitator:

Gefroren hat es heuer,

noch gar kein festes Eis.

Das Büblein steht am Weiher

und spricht zu sich ganz leis:

"Ich will es einmal wagen,

das Eis muss doch nun tragen.

Wer weiß!"

Das Büblein stampft und hacket

mit seinem Stiefelein.

Das Eis auf einmal knacket,

und krach! Schon bricht’s hinein.

Das Büblein planscht und krabbelt,

als wie ein Krebs und zappelt

mit Arm und Bein.

"O helft, ich muss versinken

in lauter Eis uns Schnee!

O helft, ich muss ertrinken

im tiefen, tiefen See!"

Wär’ nicht ein Mann gekommen,

der sich ein Herz genommen –

o weh.

Der packt es bei dem Schopfe

und zieht es so heraus,

vom Fuße bis zum Kopfe

wie eine Wassermaus.

Das Büblein hat getropfet,

der Vater hat’s geklopfet

zu Haus.

Sprecherin: "Gefroren hat es heuer". Heuer bedeutet eigentlich "in diesem Jahre" und ist für "heutzutage" oder auch nur "heute" noch immer in Süddeutschland und Österreich gebräuchlich.

Sprecher: Ein Büblein – das ist ein kleines männliches Kind. Bube bedeutet Knabe oder Junge. In spätmittelhochdeutscher Zeit sind im ganzen westgermanischen Raum Bezeichnungen ähnlich dem mittelhochdeutschen "buobe" geläufig. Auch das englische "boy" geht darauf zurück.

Sprecher: Auch auf der Bühne des 19. Jahrhunderts begegnet uns das Büblein, und zwar in einem bekannten Trinklied des Falstaff aus der Oper "Die lustigen Weiber von Windsor" von Otto Nicolai:

Sprecherin: "Als Büblein klein an der Mutterbrust": Der Librettist Hermann Mosenthal hat sich hier eng an das gleichnamige Lustspiel von Shakespeare anlehnt. Doch nun zurück zu unseren Wintergedichten:

Sprecher: Wir wollen uns nicht ausschließlich der eher dunklen, trüben Stimmung des Winters hingeben, sondern auch nach einem Gedicht suchen, das den Winter als einen starken, kernigen Kerl vorstellt. Ein solches hat Matthias Claudius geschrieben, ein Dichter des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. "Ein Lied, hinter dem Ofen zu singen":

Zitator:

Der Winter ist ein rechter Mann,

kernfest und auf die Dauer,

sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an

und scheut nicht süß noch sauer.

War je ein Mann gesund, ist er’s;

Er krankt und kränkelt nimmer,

weiß nichts vom Nachtschweiß noch Vapeurs

und schläft im kalten Zimmer.

Er zieht sein Hemd im Freien an

Und lässt’s vorher nicht wärmen

Und spottet über Fluss im Zahn

Und Kolik in Gedärmen.

Aus Blumen und aus Vogelsang

Weiß er sich nichts zu machen,

hasst warmen Drang und warmen Klang

und alle warmen Sachen.

Doch wenn die Füchse bellen sehr,

wenn’s Holz im Ofen knittert,

und um den Ofen Knecht und Herr

die Hände reibt und zittert;

wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht,

und Teich’ und Seen krachen;

das klingt ihm gut, das hasst er nicht,

dann will er tot sich lachen.

Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus

Beim Nordpol an dem Strande;

Doch hat er auch ein Sommerhaus

Im lieben Schweizerlande.

Da ist er denn bald dort, bald hier,

gut Regiment zu führen.

Und wenn er durchzieht, stehen wir

Und sehn ihn an und frieren.

Sprecher: Der Winter als ein starker, gesunder Kerl, er kränkelt nicht, heißt es. Er weiß nichts vom Nachtschweiß noch Vapeurs. Der Winter ist also nicht geschwächt, nicht hinfällig, und er braucht deshalb auch keine Vapeurs, keine Dampfbäder.

Sprecherin: Auch bei Matthias Claudius finden wir also ausdrucksstarke Wörter, die in der heutigen Lyrik kaum noch vorkommen. Von ihm stammt übrigens auch "Der Mond ist aufgegangen", das als schönstes, als stimmungsvollstes deutsches Gedicht empfunden wird. In diesem berühmten Abendlied heiß es gleich zu Beginn: "Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar…". Er hätte auch sagen können, die kleinen Sterne leuchten, aber stattdessen prangen sie. Prangen geht sprachgeschichtlich auf Prunk zurück, es ist auch mit dem Wort prahlen, also angeben, verwandt. Und das Gepränge ist der Prunk mit dem zum Beispiel früher die Könige bei offiziellen Anlässen auftraten.

Sprecher: Dieses prangen finden wir auch in einem Wintergedicht, das vor etwa vierhundert Jahren in den Niederlanden entstanden ist und als Lied Ende des 19. Jahrhunderts dann in Deutschland verbreitet wurde. Es heißt "Der Winter ist vergangen".

Zitator:

"Der Winter ist vergangen,

ich seh des Maien Schein,

ich seh die Blümlein prangen,

des ist mein Herz erfreut…."

Sprecher: Soweit die erste Strophe dieses alten Winterliedes. Die letzte beginnt mit einem Abschiedswort, das heutzutage nur noch im mundartlichen Deutsch zu hören ist: ade.

Zitator:

"Ade, mein Allerliebst,

ade, schön Blümlein fein,

ade, schön Rosenblume,

es muss geschieden sein…"

Sprecherin: Dieses ade geht auf das lateinische ad deum zurück. In die deutsche Sprache ist es über das französische eingewandert: à dieu "zu Gott" – das meint "Gott befohlen". Adieu ist auch heute noch gebräuchlich.

Sprecher: Mit diesem Ade verabschiedet sich der Winter auch in einem Gedicht von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, das im 19. Jahrhundert, in eine fränkische Volksmelodie gekleidet, populär wurde.

Zitator:

"Winter, ade! Scheiden tut weh!

Aber dein Scheiden macht,

dass mir das Herze lacht.

Winter, ade! Scheiden tut weh!

"Winter, ade! Scheiden tut weh!

Gerne vergess ich dein,

kannst immer ferne sein.

"Winter, ade! Scheiden tut weh!

"Winter, ade! Scheiden tut weh!

Gehst du nicht bald nach Haus,

lacht dich der Kuckuck aus.

"Winter, ade! Scheiden tut weh!

Hanno Murena

Drucken

Hanno Murena | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.