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Gabi Klasen | www.dw-world.de | © Deutsche Welle.

Märchensprache

Hexen kommen heute nur noch in Märchen vorHexen kommen heute nur noch in Märchen vor

Hänsel und Gretel, Schneewittchen und die sieben Zwerge oder Frau Holle bevölkern so manches Märchenbuch, und ihre Taten haben in der deutschen Alltagssprache Spuren hinterlassen.

"Ach, wie gut, dass niemand weiß..." könnte zum Beispiel jemand vor sich hin murmeln, während er gerade etwas Verbotenes macht - und weiß dabei vielleicht gar nicht, dass er gerade das Rumpelstilzchen zitiert. Deshalb ist unsere Reporterin ins Märchenland gereist. Dort hat sie Feen, Kobolde, Hexen und Prinzessinnen interviewt, um zu erfahren, wie tapfer das Schneiderlein wirklich gewesen ist.

  • O-Ton: "Es war einmal vor langer, langer Zeit ein tapferes Schneiderlein. Das war ein kleines, schmächtiges Kerlchen, das sich oft ängstigte. Zwar war es behände im Umgang mit Nadel und Faden, doch für die Dinge des Lebens besaß es recht wenig Geschick. Eines Tages hatte das Schneiderlein genug von seinem tristen Dasein. Es wollte sein Leben von Grund auf ändern und begann zum ersten Mal, sich zur Wehr zu setzen. Die, die es ärgerten, schlug es ganz einfach tot. Nicht nur einen, nein, sieben auf einen Streich. Um seinem Erfolg die Krone aufzusetzen, bestickte es einen Gürtel mit seiner Heldentat. So stand zu lesen: "Sieben auf einen Streich". Was das tapfere Schneiderlein nicht erwähnte, war, dass es sich bei den armen Sieben um Fliegen handelte. Alle, die die Mär, die Nachricht oder Kunde, von des kleinen Schneiders großer Tat hörten, zollten ihm Respekt, ja, sie fürchteten sich nunmehr vor ihm."

Sprecher: Märchen gibt es in jeder Volks- und Sprachgemeinschaft. Jede Kultur hat ihre eigenen Märchen, die aber auch von anderen Kulturen beeinflusst sind. Im europäischen Märchen sind seit dem 9. Jahrhundert jüdische, arabische, keltische, seit den Kreuzzügen auch indische Einflüsse erkennbar.

Sprecherin: "Es war einmal...", "In jenen Zeiten..." oder "Es begab sich..." - mit diesen oder ähnlichen Worten beginnen die meisten Märchen. Und auch heute ist der Ausdruck "Es war einmal" manchmal noch zu hören. Man benutzt ihn gerne etwas ironisch, um seinen Zuhörern eine vielleicht gar nicht so spannende Geschichte oder Begebenheit aus dem Alltag schmackhaft zu machen, das heißt, sie dafür zu interessieren und sie zu unterhalten. Märchen beginnen aber häufig nicht nur mit den selben Worten, auch das Ende wiederholt sich wie ein Ritual. Jeder, der schon viele Märchen erzählt hat oder vorgelesen bekam, weiß, was am Ende kommt: Und wenn sie nicht gestorben sind - ja, was dann?

  • O-Ton: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute: Ironisch würde ich das gar nicht sehen, sondern eher so, dass das sich eben immer wiederholt und dass es auch eben heute noch passieren kann. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute, hat ja ein positives Ende, aber man kann auch sagen, alles ist wiederholbar, und alles kommt in anderer Form zurück."

Sprecher: Stellen Sie sich vor, jemand erzählt Ihnen von einer Liebesgeschichte in seinem Bekanntenkreis, die so schön klingt, dass Sie das, mit Ihrem Sinn für Nüchternheit, gar nicht glauben wollen. Dann könnten Sie lächelnd sagen: "Ja, ja, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Auf ironische Art bringen Sie damit Ihre Auffassung zum Ausdruck, dass es keine Wunder und auch keine wunderbaren Liebesgeschichten gibt. Eltern lesen ihren Kindern Märchen vor, weil diese selbst nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Märchen besitzen Allgemeingültigkeit und sind auf unsere heutigen Lebensumstände übertragbar.

Sprecherin: Wenn also das tapfere Schneiderlein nicht gestorben ist, dann geistert es auch heute noch durch die Welt und besticht Menschen und Tiere mit seinen heldenhaften Taten.

Sprecher: Gar so heldenhaft klingt die in Anlehnung an die sieben Fliegen des Schneiders heute verwendete Redewendung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen allerdings nicht mehr. So kann ein Geschäftsmann durch den Abschluss eines guten Geschäfts einen finanziellen Gewinn machen und auch noch einen Kontrahenten aus dem Feld schlagen. Er kann sagen: "Ich habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, erstens habe ich viel Geld verdient, zweitens bin ich den leidigen Gegner losgeworden." Und "aus dem Feld schlagen" bedeutet hier ganz einfach besiegen.

  • O-Ton: "Wenn man einen guten Deal gemacht hat, wenn man irgendwie was erreicht hat, was man sowieso erreichen wollte und kriegt noch einen Bonus obendrauf vielleicht, dann würde ich sagen, hat man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen."

"Ich gehe zu einem Geburtstag gratulieren und möchte das aber gleichzeitig nutzen, um mit Bekannten zu sprechen."

"Ja, wenn ich in der Stadt Besorgungen machen muss und gehe in ein Museum, das würde ich sagen, sind zwei Fliegen mit einer Klappe."

Sprecher: Na also! Ausdrücke aus dem Märchenreich sind gar nicht so selten in unserer Sprache. In der heutigen "Trash-", sprich Müll- oder auch Anti-Kultur, die eher "hip" und "hop" ist als märchenhaft und feengleich, sind sie jedoch etwas in Vergessenheit geraten. Und ehe ich's vergesse, erkläre ich noch schnell, was ein guter Deal ist, ein gutes Geschäft nämlich. Und wer einen Bonus bekommt, erhält etwas zusätzlich. Das kann die Weihnachtszulage beim Gehalt sein oder einfach ein Lob.

Sprecherin: Kindern erzählt man Märchen. Sie sollen ihre Phantasie und ihre Sprache anregen, sie sollen ihnen Einsichten vermitteln über die Menschen, über das Leben und über die Welt. Sie sollen ihnen helfen, ihre Erlebniswelt mit all ihren Ängsten zu bewältigen. Am Märchen sollen Kinder lernen, dass das Rotkäppchen besser auf die Mutter gehört und dem bösen Wolf nicht erzählt hätte, dass es die kranke Großmutter in ihrem einsamen Häuschen tief im Wald besuchen wollte.

Sprecher: Oder, dass es sich nicht lohnt, für einen Prinzenkuss in einen hundertjährigen Tiefschlaf zu verfallen - wie Dornröschen. Denn so lieblich und märchenhaft sich die Geschichte auch anhört, klar ist, dass der Dornröschenschlaf heute weniger ein süßes Schlummern, als vielmehr vertane Zeit bedeutet. Hat sich jemand einen Partner gewählt und alle, außer der betroffenen Person selbst, merken schnell, dass es der Falsche ist, dass er oder sie zum Beispiel ausgenutzt wird, dann erwacht man wie aus einem Dornröschenschlaf - wenn man es endlich selbst begriffen hat. Auch in der Politik ist der Dornröschenschlaf ein gern benutztes rhetorisches Mittel, um dem Gegner Inkompetenz vorzuwerfen, ihm zu sagen: "Hör mal, du hast den Zug der Zeit verpasst, deine Ideen sind altmodisch, unzeitgemäß, sie hinken hinter den Bedürfnissen der Menschen hinterher."

  • O-Ton: "Wenn Erwachsene schon mal nicht so reagieren, wie man sich das vorstellt, dass man dann sagt, aus dem Dornröschenschlaf bist du erwacht. Du hast eine Sache verschlafen."

"...auf einmal 'nen Gedanken hat oder ein bisschen träge war vielleicht, und jetzt hat man das kapiert, jetzt hat er es geschafft oder so. Mit dem würde ich das in Zusammenhang bringen."

"Wenn man längere Zeit irgendwie abwesend war und dann durch 'nen äußeren Anstoß plötzlich wieder in der Realität ist."

"... sich nicht geäußert hat und dann plötzlich aufwacht und vielleicht ein Aha-Erlebnis hat oder plötzlich wieder lebendig ist."

"Es wäre Zeit, dass die Menschheit insgesamt aus diesem Dornröschenschlaf erwachen würde."

"Eine Sache, die ewig gedauert hat."

"Nicht der Schlaf der Gerechten, denn da geschieht ja nix, während Dornröschen schläft, ist es so ja fast wie tot und muss daraus mit Hilfe von einem Prinzen ja erlöst werden, und erst dann ist alles gut. Der Dornröschenschlaf an sich ist eigentlich nichts Gutes."

Sprecher: Aha, so ist das mit dem Dornröschenschlaf. Ich wußte das bisher nicht und habe jetzt ein Aha-Erlebnis, ich weiß also etwas, was ich, bis man es mir erklärte, noch nicht wusste. Der Schlaf der Gerechten ist natürlich kein Schlaf, dem sich nur Menschen hingeben dürfen, die eine gerechte Tat vollbracht haben. Jemand, der einen ganzen Tag lang hart gearbeitet hat, darf abends den Schlaf der Gerechten schlafen, ein besonders tiefer, erholsamer Schlaf, der einem nach getaner Arbeit zusteht. Gerne wird dieser Ausdruck in spöttischer Absicht gebraucht, um die Arbeitsleistung von Menschen, die vorzugsweise in öffentlichen Behördenstuben arbeiten, schlecht zu machen.

Sprecherin: Ob Dornröschen, Schneewittchen, Aschenputtel, die böse Hexe oder die Stiefmutter - die Figuren in Märchen sind entweder gut oder böse, schwarz oder weiß. In der Märchenwelt herrscht zwar nicht immer eitel Sonnenschein, doch zumindest die Guten und Reinen können sich auf das Ende freuen, während die Hexe im Backofen schmort und der böse Wolf, mit den schweren Wackersteinen im Bauch, in den Brunnen fällt.

Sprecher: Märchen sollen beflügeln, die Menschen ins Land der Träume entführen. Einer der schönsten Träume stammt aus "Tausend und einer Nacht", einer Sammlung von Märchen aus der arabischen Welt. Ein Erlebnis kann wie aus "Tausend und einer Nacht" sein. Jemand, der etwas Wunderschönes erlebt, könnte es mit diesen Worten beschreiben. Natürlich hat jeder Mensch eine andere Vorstellung von einem romantischen Abend oder einem Traumurlaub oder einer privaten Beziehung, auf die die Beschreibung wie aus "Tausend und einer Nacht" passt. Gerade deshalb macht sich auch die Werbesprache den märchenhaften Ausdruck zunutze. Ob es darum geht, Kunden für ein idyllisches Strandparadies im indischen Ozean zu locken oder aber viel simpler, den traumhaften Schlafkomfort einer Supermatratze hervorzuheben, keine Agentur scheut sich, ihr Produkt mit wie aus "Tausend und einer Nacht" zu beschreiben.

  • O-Ton: "Etwas Schönes, Märchenhaftes, Herrliches, Träumerisches."

"Ganz, ganz prächtig und faszinierend und wie so'n bisschen aus einer anderen Welt."

"Das ist ja sehr exotisch, arabisch, orientalisch, sehr wundersam."

Sprecher: Eben wie aus einem Märchen, was ebenfalls ein gerne verwendeter Ausdruck ist, der etwas umschreibt, was man nicht beschreiben kann. Wenn es um Erlebnisse wie aus "Tausend und einer Nacht" geht, klaffen die Vorstellungen auseinander. Hören Sie, was unsere Reporterin herausgefunden hat.

Während die einen von heißen Nächten auf karibischen Inseln träumen, klare Sternenhimmel erforschen, sind nüchterne Zeitgenossen schon mit weniger zufrieden. Ist die Karibik zu weit oder zu teuer, tut's auch schon ein Abend zu zweit.

  • O-Ton: "Was Schönes, Romantisches."

"Wenn man irgendwo im gepflegten Lokal ist, mit viel schöner Beleuchtung und so, das ist für mich romantisch, also so gepflegt irgendwo sein, gepflegt tanzen gehen oder irgendwo schön ins Theater gehen und so."

Sprecher: Wenn etwas wie aus "Tausend und einer Nacht" ist, dann ist es fast zu schön, um wahr zu sein, etwas Unfassbares. Doch die Redewendungen aus Märchen, die wir Ihnen hier vorstellen, liegen in der Regel näher an der Realität und sollen helfen, dem Zuhörer extreme Situationen begreiflich zu machen. Mit Hilfe von Bildern werden zum Beispiel menschliche Schwächen aufgedeckt.

Sprecherin: Stellen Sie sich einmal einen Berg von Matratzen vor - alle übereinander liegend. Auf diesem Berg ruht eine junge Frau, eine Prinzessin natürlich. Sie liegt weich und bequem, denken wir. Aber wehe - die junge Dame beschwert sich bitterlich. Worüber, fragen Sie sich? Über eine Erbse, die unter der untersten Matratze liegt.

Sprecher: Was im Märchen wahr ist, ist in der Wirklichkeit nur bildhaft gemeint. Eine Prinzessin auf der Erbse kann im Grunde auch ein ganz gewöhnlicher Mensch sein, Mann oder Frau. Jemand, der für sich immer nur das Beste und Schönste will, der auch glaubt, die oder der Beste und Schönste zu sein und sich vor schmutzigen Arbeiten - wie Boden wischen oder Badewanne schrubben - gerne drückt, sprich schmutzige, anstrengende Arbeiten lieber anderen überlässt oder einfach übersieht.

  • O-Ton: "Wenn einer also überempfindlich ist und einfach übertrieben empfindlich und pingelig."

"Das war eine Superempfindliche, dass Einbildung war."

"Dass sich viele irgend etwas einbilden und vielleicht auch damit glücklich sind, warum nicht?"

"Jemand, der sehr empfindlich ist, über jede Kleinigkeit mosert, sich aufregt, künstlich aufregt."

"Ganz Empfindliche, ha, ha, ja."

"Heute würde man sagen, so ganz empfindliche, eingebildete Ziege."

"Prinzessin auf der Erbse sagt man meiner Meinung nach zu Leuten, die sich zu fein für alles sind oder die sich gerne bedienen lassen und immer rumstänkern und so und schon eine Erbse im Bett sie stört, so quasi. Und eine Erbse ist ja was ganz Kleines, also die leicht empfindlich reagieren auf alles, was störend ist."

Sprecher: Hier hört man, wie eine Prinzessin auf der Erbse die Gemüter bewegen kann. Rumstänkern, mosern und pingelig sind Attribute, die vielen zu einer solchen Person einfallen. Von der empfindlich eingebildeten Ziege ganz zu schweigen. Empfindlich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie empfindlich ist, wenn es um sie selbst geht, aber nicht, wenn es darum geht, unliebsame Arbeiten auf andere abzuwälzen. Das Adjektiv empfindlich bedeutet in Verbindung mit einem Adverb immer eine Steigerung der betreffenden Eigenschaft. Empfindlich eingebildet heißt also, gehörig eingebildet, nicht zu knapp. Eine Ziege ist ein Tier, dessen tierische Lautmalereien als Meckern bezeichnet werden. Und meckern, das kann auch die Prinzessin auf der Erbse. Und wie. Sie meckert oder stänkert oder mosert über das zu kalte Essen, über die Haare im Waschbecken, kurz, sie beschwert sich über alles, was ihr gegen den Strich geht, was ihr nicht passt, nicht gefällt. Und jemand, der sich über alles beschwert, ist häufig ein sehr pingeliger Mensch. Das kann Ordnung und Sauberkeit betreffen, die Kleidung oder die Ablage am Schreibtisch. Und diese Person möchte, dass alle anderen in ihrem Umfeld ebenso pingelig sind. Und wenn nicht, dann wird eben gemosert oder rumgestänkert - je nach Belieben.

Gabi Klasen

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