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Alltagsdeutsch (50/04) 14.12.2004 "Brotlose Künste"

Brotlose Künste
Sprecherin: Eine der bekanntesten Mythen in der Kunst ist die Geschichte vom armen Künstler: Er opfert sein Leben für die Kunst – und erhält im Tausch Genie und Unsterblichkeit. Weil der Künstler sich mit diesen Eigenschaften über die Regeln und Normen der Gesellschaft hinwegsetzen kann, besitzt er ein Maximum an Freiheit, das ihm für sein kreatives Schaffen zugebilligt wird. Als Preis verzichtet er dafür auf ein etabliertes und finanziell abgesichertes Leben. Die Vorstellung vom armen Künstler, der sein Leben ganz dem kreativen Schaffen widmet und dafür auf Wohlstand verzichtet, hat sich bis heute gehalten.
Wir besuchen die Alanus-Hochschule in Alfter bei Bonn. Sie ist die erste private anerkannte Kunst-Akademie in Deutschland und bildet ihre Studierenden zu bildenden Künstlern, Bildhauern, Kunsttherapeuten oder auch Schauspielern aus. Am Ende des vierjährigen Studiums steht ein staatlich anerkanntes Diplom. Doch selbst dieser Abschluss ist kein Garant für späteren beruflichen Erfolg, weiß Dagmar Pütsch, die im 3. Jahr Malerei an der Alanus-Hochschule studiert.
O-Ton Dagmar Pütsch: "Ich glaub, der Kunst muss man ganz schön viel zufüttern, Brot geben, dass sie zu der werden kann, die sie ist vom Namen her und vom Inhalt. Insofern ist die Frage, wie man mit dem Begriff brotlose Kunst umgeht."
Sprecherin: Die interviewte Künstlerin geht nicht nur äußerst sensibel mit Farben und Formen um, sondern erweist sich auch als wahre Sprachkünstlerin. Dem allgemeinen Vorurteil über ihr Tun als brotlose Kunst begegnet sie mit sprachlichen Spielen: Ursprünglich ist das Wort los ein althochdeutsches Adjektiv mit der Bedeutung: frei, ledig, bar, beraubt. Als solches kommt es heute nur noch in festen Wendungen vor. Man sagt von einem Menschen, der viel und rasch, häufig und unbedacht oder gar frech redet, er habe ein loses Mundwerk. Das Adjektiv los ist heute zur bloßen Nachsilbe geworden und verbindet sich mit Substantiven zu neuen Adjektiven wie: arbeitslos, lustlos, kraftlos oder eben auch brotlos. Die Wertschätzung des Brotes ist von je her tief verwurzelt. In der Umgangssprache steht Brot noch immer stellvertretend für Nahrung und Lebensunterhalt. Damit symbolisiert Brot alles, was mit materieller Existenz zu tun hat. Da seit altersher Arbeit mit Geld entlohnt wird, steht Brot auch stellvertretend für Geld. Irgendwo verdient man seine Brötchen. Arbeitnehmer haben einen Brötchengeber, früher hieß dieser "Brotherr". Man spricht von Broterwerb und Brotberuf. Eine brotlose Kunst ist eine Tätigkeit, die nichts einbringt; sie meint nicht ausschließlich das künstlerische Tun. Dennoch gilt allgemein die Kunst – gehört man nicht zu den wenigen berühmten Künstlern – in besonderer Weise als brotlose Kunst.
Die Künstlerin Dagmar Pütsch spielt semantisch mit dem Begriff der brotlosen Kunst. Sie nimmt das Adjektiv brotlos zunächst beim Wort, wenn sie sagt, dass man der brotlosen Kunst selbst Brot geben müsse, damit sie zu dem werde, was sie sein soll, und findet dann einen neuen Bezug mit der Vorstellung, dass eine sozusagen satte Kunst ihr als Künstlerin eine Nahrung, also Kraft gebe.
Sprecherin: Auch Andreas Reichel, der die Malabteilung an der Kunsthochschule leitet, verbindet mit dem Begriff der brotlosen Kunst nicht unbedingt Negatives.
O-Ton Andreas Reichel: "Dieses herrliche Wort brotlos hat ja einerseits dieses Brot, wo man satt wird von und auf der anderen Seite dieses los, wo irgendetwas losgeht. Also ein los, ab die Post, jetzt endlich an und vorwärts und los, auf die Plätzchen, fertig, los. Von daher ist das Wort nicht immer nur die Frage: Bist du guter Bürger, weil du eben Brot hast, sondern umgekehrt, und das kann man doch voll bejahen dann, umgekehrt eben: Hast du Power, hast du Brot, um loszustarten. Und in der Hinsicht hab ich meine große Überzeugung, dass das hier Sinn macht, brotlos zu arbeiten, gerade brotlos zu werden, weil das letztlich eine Tugend ist, die, wenn der Onkel von nebenan fragt, ob ich eben davon leben kann, die man nur bejahen kann, wenn man sich ausstaffiert hat, wenn man wirklich gelernt hat, inwieweit Ideen nicht einfach nur abstrakte Begriffe sind, sondern dass sie in der Lage sind, wie Brot zu wirken. Wie Brot, was satt macht oder das einfach nur ernährt oder irgendwie los will, losbrettert, losbrotet, vielleicht so."
Sprecher: Der Künstler Andreas Reichel kreiert mit dem Adjektiv brotlos wahre Sprachkapriolen. Er trennt das Substantiv von seiner Vorsilbe und spielt mit beiden Begriffen auf semantisch vielfältige Weise, wobei es ihm gelingt, allein auf der Basis dieser zwei Wörter seine Kunstauffassung lebendig werden zu lassen. Dabei entstehen Bedeutungen und Worte wie losbroten, die rein künstlerische Phantasie-Produkte sind. In dieser Wortneuschöpfung ist das Adjektiv los keine Nachsilbe, die einen Mangel bezeichnet, sondern eine für sich stehende Aufforderung mit einem energischen Akzent. So kann man loslegen, losplatzen oder auch ausrufen: "Los!" Oder "Los geht´s"! Auch der Ausruf: Ab geht die Post oder auf die Plätze, fertig, los, ist eine bekräftigende Schlussformel und bezeichnet etwas, das mit Schwung schnell erledigt wird.
Die Sprach-Kreation losbroten nähert sich einer Sprachkunst-Form, der konkreten Poesie, und erinnert an Ernst Jandl, den bekanntesten Vertreter dieser experimentellen Literatur. Ein Ausschnitt aus einem Sprechgedicht:
Einspielung: Ernst Jandl, Sprechgedichte: ("Am Hanflang war das Wort")
Sprecherin: Die Bereitschaft, sich für einen Beruf zu entscheiden, mit dem man nicht unbedingt viel Geld verdienen kann, verlangt von den Kunst-Studierenden viel Selbstbewusstsein. Die Dozenten wollen die Studierenden dabei unterstützen, sich früh auf ein späteres Künstlerleben vorzubereiten.
O-Ton Andreas Reichel: "Für mich, da ich hier Dozent und Professor bin, die Frage: Verleite ich, verführe ich Studenten dazu, dass sie etwas machen, wo sie auch noch viel Geld für ausgeben, und hinterher ist das Endstadium ein Elfenbeinturm, eine Elfenbeinturmeinrichtung."
Sprecher: Das Gegenteil eines der Welt zugewandten, engagierten Menschen ist der Wissenschaftler, Literat oder Künstler, der in seinem Elfenbeinturm sitzt oder sich in diesen zurückzieht. Der Elfenbeinturm symbolisiert eine Arbeits- und Lebensweise, die fernab aller Probleme der Welt nur auf die eigene oder werkbezogene Sicht gerichtet ist. Der Begriff stammt aus dem Französischen und wurde 1835 von dem Literaturkritiker und Schriftsteller Sainte-Beuve als Bild für Isolation von den Realitäten geprägt. Der Begriff Elfenbeinturm hat in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen: als treffende Bezeichnung für den Gegensatz von hektisch-betriebsamer Alltagswelt und abgeschiedener Zurückgezogenheit. Die Redensart hat heute negative Bedeutung und enthält den Vorwurf, es sich leicht zu machen, indem man sich als Wissenschaftler oder Künstler von den Problemen der Tagespolitik zurückhält und persönliche Interessen der Forschung oder Kunst vorschützt, statt sich zu engagieren.
Sprecherin: Die Rolle des brotlosen Künstlers ist an der Alanus-Hochschule immer wieder Thema in Seminaren und Workshops. In einer kleinen Ausstellung befinden sich so zum Beispiel Kontoauszüge, die eine Kunst-Studentin mit poetischen Texten versehen hat. Auf diese Weise will die Künstlerin einen Diskurs über das Verhältnis von Kunst und Wirtschaft in Gang bringen. In der Ausstellung geht es aber in erster Linie nicht um die brotlose Kunst, sondern um das Ausprobieren einer ganz bestimmten Technik.
O-Ton Andreas Reichel: "Gerade jetzt sind wir in einer kleinen Ausstellung, die wir heute morgen eröffnet haben mit dem Thema: Monotypie – kein bloßer Abklatsch. Und da ging es also darum, eine sehr alte Technik des Abdrückens, von Flecken machen, von irgendwie Farbe abdrücken, was jetzt auch gerne beim Kindergeburtstag gemacht wird. Man kennt das Papier, wo man in der Mitte Farbe drauftut und das zusammenklatscht und wieder auseinander schiebt und dann dieser Schmetterling oder irgendeine Phantasieform da entsteht, wie das vertraut ist, und gleichzeitig auch an die künstlerische Note Ansprüche stellt, weil gerade das Medium so einfach ist, dann da einen bestimmten Charakter reinzukriegen."
Sprecher: Andreas Reichel beschreibt den Vorgang des Abklatschens, wie er ursprünglich beim Drucken, später – in ähnlicher Weise auch beim Malen – angewandt wurde. Das Seminar lässt die Studierenden mit dieser Technik experimentieren. Sie verändern den gewonnenen Abdruck mit kreativen Gestaltungselementen, um eben kein einfaches Duplikat, sondern ein neues Kunstwerk zu erstellen.
Wenn Andreas Reichel sagt, dass diese Bilder einen künstlerischen Anspruch verfolgen und kein bloßer Abklatsch sind, klingen in seiner Rede sowohl die ursprüngliche Bedeutung wie die übertragene Redeabsicht mit, die unter einem Abklatsch eine unschöpferische Nachahmung versteht.
Das Wort klatschen erklärt sich übrigens aus dem Vorgang, das feuchte Papier, das man auf den zu kopierenden Satz legte, mit der Hand aufzuklatschen oder mit einer Bürste festzuklopfen.
Sprecherin: Die Abklatsch-Arbeit von Dagmar Pütsch setzt sich mit Motiven und Piktogrammen auseinander, wie es sie beispielsweise auf Flughäfen oder Bahnhöfen gibt. Der Betrachter nimmt diese Zeichen im Alltag meistens gar nicht richtig wahr. Um sie wieder sichtbarer zu machen und ins Bewusstsein zu heben, verfremdet die Künstlerin die Symbole, indem sie sie mit Schwarz-Weiß-Schattierungen übermalt.
O-Ton Dagmar Pütsch: "Von mir sind diese zwölf Wandtafeln, das Motiv sind Grauzonen im Alltag. Also ich versuche, mein Augenmerk auf ganz kleine bescheidene unauffällige Momente zu legen, um diese ins Bild zu bringen und sie sozusagen etwas lauter zu stimmen. Und die Grauzonen, die haben sich insofern verselbständigt und sind zu einem malerischen Thema geworden, als dass das Grau mir wichtig war als Mittelwert, als unauffällige Zwischenstation zwischen Schwarz und Weiß, mit denen ja sehr oft gearbeitet wird, zu erkunden und für mich zu erschließen und dem auch eine Qualität zuzufügen, was Interesse weckt."
Sprecher: Auch hier wird ein Begriff in einer zweifachen Bedeutung verwendet: Technisch nimmt Dagmar Pütsch die Grauzonen sozusagen beim Wort, indem sie sie als Mischfarben einsetzt; ihre Intention aber ist, Teilbereiche der übertragenen Bedeutung von Grauzonen wirksam werden zu lassen; denn das Bildwort meint undeutliche oder unbekannte Bereiche, häufig sogar in der Spanne zwischen Legalität und Illegalität, ursprünglich eben Weiß und Schwarz.
Verwandt mit diesem Begriff ist die Wendung: alles grau in grau malen, das heißt, etwas pessimistisch darstellen und durchgehend negativ beurteilen. Hinter dem Begriff verbirgt sich keine Maltechnik, er gründet vielmehr in einer bestimmten Wettervorstellung: In Norddeutschland herrscht Westwind, also Regenwind vor. Der Himmel ist häufig grau. Es gibt wenig Licht und kaum Schatten. Menschen und Gegenstände erscheinen ohne scharfe Konturen. Wird etwas als grau in Grau bezeichnet, so drückt das zunächst eine apathische Stimmung aus und meint Langweiliges. Ein grauer Alltag ist ein hoffnungsloses Einerlei ohne jeden Höhepunkt.
Sprecherin: Eine andere Studierende hat für die Ausstellung eine Ochsengalle getrocknet und die glatte Hautschicht mit einer Nummer versehen. Darunter steht ein Sammelregister, in dem sich Namen befinden, die auf Karteikarten geschrieben wurden.
O-Ton Andreas Reichel: "Eine ganz süffisante Anspielung an die deutsche Geschichte, wo ja eben auch, gerade bei jüdischen Verfolgten, eine Nummer in den Oberarm geprägt wurde, das ist ja jetzt auch hier mit dem Karteisystem oder den Embryonen, unser heutiges Kapitel mit dem Klonen, die Frage, wo ein heißes Eisen oder überhaupt ein Thema, was jetzt nicht nur den Künstler im Atelier interessiert, sondern was wie man sagt, in der Luft liegt oder wo alle was dazu sagen, in Talkshows, oder auch ich muss jetzt ins Mikro was dazu sagen. Alle schwätzen zu irgend etwas, und an dieser Ecke kriegt es etwas von Bindung, von Form, die irgend etwas auslöst, wodurch sich Zukunft ermöglicht oder wodurch Bewegung entsteht."
Sprecher: Der engagierte Künstler fasst heiße Eisen an, bearbeitet Themen, die in der Luft liegen. Ein heißes Eisen anfassen meint, eine heikle delikate Angelegenheit aufzugreifen. Die Redensart ist dem mittelalterlichen Gottesgericht, der Eisenprobe, entlehnt. Themen, die in der Luft liegen, sind Ideen oder Probleme, die nur ausgesprochen zu werden brauchen, um sofort allgemeinen Anklang zu finden.
Sprecherin: Vieles liegt also an der Einstellung, die der Künstler zu seinem Beruf hat: Jemand, dem eine finanzielle Absicherung sehr wichtig ist, sollte vielleicht eine nicht-künstlerische Laufbahn einschlagen, die ihm ein geregeltes Einkommen ermöglicht. Ein Künstler jedoch sollte vor allem Gelassenheit mitbringen, meint Andreas Reichel.
O-Ton Andreas Reichel: "Dass ich selber mit meiner Verantwortung, mit der Vorstellung über mich über anderes so klarkomme, dass ich das so als Kreationskraft hab und dadurch eben Gelassenheit, oder eben so die Hummel unterm Hintern, Gelassenheit aber hab, dem nächsten Anlass gegenüber bestehen zu können. Das ist natürlich auch mal in einem Bett liegen bleiben oder mal versumpfen in irgendeiner Alkoholnacht, okay, aber dennoch diese Chance, seinen eigenen Weg eben selber auszutreten."
Sprecher: Die derbe Wendung Hummeln im oder unterm Hintern haben, bezeichnet das Gegenteil von Gelassensein. Sie charakterisiert einen Menschen, der nicht ruhig sitzen kann, sondern ständig etwas zu verrichten sucht. Schon in Martin Luthers Sprichwortsammlung ist diese grobe Redensart verzeichnet; es heißt dort: "Er hat humel ym arse".
Hummeln kann man auch im Kopf haben, wenn man unruhig ist und mehrere Dinge gleichzeitig erledigen will. Schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts ist literarisch die wilde Hummel belegt als Umschreibung für ein ausgelassen umherschwärmendes Mädchen.
Das Bildwort sumpfen für übermäßiges Trinken von Alkohol kam 1850 unter den Studenten auf, um so das ausschweifende Leben trunksüchtiger Kommilitonen zu umschreiben. Kommt man viel zu spät oder gar nicht mehr heim, ist man total versumpft.
Sprecherin: Seit einiger Zeit gibt es an der Alanus Hochschule auch einen Aufbaustudiengang mit dem Namen "Kunst im Dialog". Hier wird den angehenden Künstlern die Möglichkeit gegeben, in Kontakt mit Unternehmen zu kommen, die sich zum Beispiel für Kunst-Sponsoring interessieren. So sind in den vergangenen Jahrzehnten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wirtschaft neue Berufsfelder entstanden, die die Arbeitsmarktchancen von Kunststudierenden verbessert haben. Der Brotberuf eines Künstlers muss also nicht immer brotlos sein!
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